Notfall

Erhöhter Blutzucker ist oft nicht zu spüren. Viele Diabetiker nehmen ihre Krankheit daher nicht ernst genug – teils mit verheerenden Folgen. Häufig sind etwa schwer heilende Wunden. Herbert Helfensteller hätte dadurch fast seinen Fuß verloren. Mit 45 Jahren.

Zucker? Mit 43? Herbert Helfensteller konnte es kaum fassen. „Mir hat nie was gefehlt“, sagt er. 15 Jahre lang habe er in der Arbeit keinen Tag gefehlt. Wegen eines Abszesses hatte er die Ambulanz einer Kreisklinik aufgesucht. Ein Bluttest ergab: Der Zuckerspiegel lag bei über 300 Milligramm pro Deziliter. Normal sind nüchtern etwa 100. Diagnose: Diabetes Typ 2.

Der Abszess heilte. Die Zuckerkrankheit aber blieb – und damit das Risiko für weitere Erkrankungen. „Ich habe das wohl unterschätzt“, sagt Helfensteller, heute 47. Als er an seinem Fuß eine Wunde entdeckte, klebte er ein Pflaster darüber – und hoffte, dass es von selbst heilt. Stattdessen wurde die Wunde nur größer. Schließlich, nach zwei bis drei Wochen, suchte Helfensteller im Internet nach einer Spezialabteilung für Diabetes-Kranke – und entschied sich für die des Klinikums Bogenhausen.

Dort wartete der nächste Schock auf ihn: Er hatte eine Blutvergiftung, glühte vor Fieber. „Ich hatte das gar nicht gemerkt“, sagt er. Schon immer sei er „hart im Nehmen gewesen“. Doch jetzt war es ernst: Die Ärzte befürchteten, dass sie bis zum Unterschenkel amputieren müssen. „Leider passiert es oft, dass Patienten lange warten“, sagt
Dr. Makarios Paschalidis, bei dem Helfensteller im Klinikum Bogenhausen noch heute in Behandlung ist. Viele achteten wenig auf ihre Füße, nähmen Verletzungen nicht ernst. Mit teils verheerenden Folgen: Mehr als 50 000 Amputationen infolge des diabetischen Fußsyndroms, an dem etwa 15 Prozent der Diabetiker erkranken, werden in
Deutschland jedes Jahr vorgenommen.

Die Zuckerkrankheit ist damit die häufigste Ursache für Amputationen.

Das hat verschiedene Ursachen: Zum einen erfordern schwer heilende Wunden eine langwierige Behandlung. Die nötige Erfahrung – und Geduld – hat man oft nur in spezialisierten Zentren wie dem in Bogenhausen. Dass Zuckerkranke generell häufig Probleme mit Wunden haben, liegt zum einen an den geschädigten Nerven. Denn ein zu hoher Blutzuckerspiegel führt
langfristig oft zu einer Neuropathie. Die Patienten verlieren das Gefühl und damit Schmerzempfinden, vor allem in den Beinen. Doch gerade hier kommt es leicht zu kleinen Verletzungen. Eine Blase, ein Riss in der trockenen Haut, eine Druckstelle – das genügt für krank machende Keime, um in den Körper zu gelangen.

Zudem heilen Wunden bei Diabetikern oft schlecht. Schuld ist einerseits häufig die Durchblutung. Ist der Zucker nicht gut eingestellt, führt das zu Arteriosklerose: Die Blutgefäße verengen sich immer mehr. Vor allem die Beine werden dann schlechter durchblutet – es kommt zur peripheren arteriellen Verschlusskrankheit.
Da das Blut auch Immunzellen transportiert, ist die Abwehrkraft geschwächt. Zerstörtes Gewebe wird nicht gut abtransportiert, Wachstumsfaktoren, die die Bildung von neuen Zellen fördern, gelangen nicht hin. Doch auch, wenn die Beine gut durchblutet sind, fördert der erhöhte Blutzuckerspiegel Entzündungen. Andererseits können diese den Diabetes auch zum Ausbruch bringen.

Bei Helfensteller zeigt die Duplexsonografie: Die Beine sind noch gut durchblutet. Sein Glück: „Sonst hat man keine Chance, dass so eine Wunde heilt“, sagt Paschalidis. Dann bleibt oft nur eine Amputation. Stimmt die Durchblutung, lässt sich indes fast jede Infektion in den Griff bekommen.
Die Ärzte wollten versuchen, den Fuß zu retten.
Helfensteller kam auf die Intensivstation, erhielt Antibiotika-Infusionen. Das zerstörte Gewebe mitsamt dem großen Zeh wurde entfernt. Zurück blieb eine etwa zehn Zentimeter große Wunde. Sie musste sich von selbst schließen – ein langer Prozess. Helfensteller durfte seinen Fuß monatelang nicht belasten.

Zum Einsatz kam zunächst die sogenannte VACTherapie. Ein Sog erzeugt dabei in der Wunde ständigen Unterdruck. Sekret wird abgesaugt, die gesunden Zellen gleichzeitig zum Wachsen angeregt. Die Wunde begann sich zu schließen, Millimeter für Millimeter. „Ich saß fast ein Jahr im Rollstuhl“, erzählt Helfensteller. Er hielt sich strikt an die Anweisungen der Ärzte, wollte seinen Fuß unbedingt behalten. Er schaffte es. Doch kam es zu einem Rückfall – wie bei vielen Patienten mit diabetischem Fuß-Syndrom. Wieder begann es mit einer kleinen Wunde. Doch hatte sich die Infektion innerlich schon ausgebreitet und den Knoche des zweiten Zehs befallen.
Die Ärzte entfernten ihn, erhielten aber das Gewebe um ihn herum. Wieder begann ein langer Weg. Helfensteller musste isoliert im Zimmer liegen. Denn in seinem Fuß hatte sich ein schwer behandelbarer Keim eingenistet: MRSA, der Methicillin-resistente Staphylococcus aureus. Im Kampf gegen ihn zogen die Ärzte auch lebendige Helfer hinzu: medizinische Maden. Die steril erzeugten Fliegenlarven fressen nur krankes Gewebe. Ihr Speichel löst es auf und wirkt zudem desinfizierend. „Man fühlt nur ein Bitzeln – und sieht sie nicht“, erzählt Helfensteller. Die millimetergroßen Helfer verrichten ihre Arbeit unter einer Wundauflage. Die Therapie hatte erneut Erfolg. Heute kann der 47-Jährige sogar wieder arbeiten.

Er achtet konsequent darauf, dass seine Füße gesund bleiben. Täglich kontrolliert er sie, geht regelmäßig zum Podologen. Der kennt sich mit den speziellen Bedürfnissen diabetischer Füße aus.
Maßangefertigte, gepolsterte Schuhe geben den Füßen Halt und schonen sie. So kann er selbst weite Strecken zu Fuß gehen. „Was ich früher mit dem Auto gefahren bin, das lauf ich heut“, sagt er. Bewegung gehört bei Diabetes unbedingt zur Therapie. Dazu kommt eine Tablette am Morgen.

Seinen Diabetes hat Helfensteller heute im Griff – und damit ein geringeres Risiko für dessen ernste Folgen.

VON SONJA GIBIS (Quelle: Münchner Merkur Nr. 237)

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